Texte grenzenlos


 

2023-05-02

Eine grauenhafte Neuigkeit

von Michael Asad

Der Schock kam wie aus dem Nichts. Als ob mir ein Kinnhaken versetzt worden war, von jemandem, den ich nicht gesehen, vorher nie wahrgenommen hatte. Ein Schlag, der mich einstweilen auf die Bretter schickte und von dem ich mich nicht so leicht würde erholen können.
Ich lebte wie ein Eremit. Zurückgezogen, isoliert, schrieb meine Romane und Geschichten, die sich leidlich verkauften, aber keine „große Welle“ schlugen, wie man so schön sagt. Aber ich konnte irgendwie davon leben, mit einiger Mühe, es klappte, das Schicksal meinte es ganz gut mit mir.
Bis zu diesem Tag. Da schlug es erbarmungslos zu - mit einer Kraft, die es sich wohl genau für diesen einen bestimmten Moment aufgespart hatte. Und danach war nichts mehr so, wie es vorher gewesen war.
Karsten, ein Freund und Nachbar, kam mich kurz auf einen Kaffee besuchen, und wir plauderten über dieses und jenes, eigentlich nur Belanglosigkeiten. Bis er auf Jesse zu sprechen kam.
Er nippte an dem heißen Getränk und meinte so nebenher: “Ich hab gehört, Jesse ist gestorben! Erst gestern! Traurig um ihn…!“
Ich war verwirrt. „Wie… gestorben? Jesse? Was meinst du? Ich verstehe kein Wort!“
Er blieb ganz ruhig. „Na, der Ex-Nachbar von dir, der ein paar Kilometer von uns entfernt wohnte! Du müsstest ihn zumindest vom Sehen kennen! 67 Jahre! Eigentlich noch kein Alter, um zu sterben. Er hatte sogar noch Pläne, wollte zu seiner Tochter, die in Australien lebt! Nun ist er tot!“
Ich fuhr zurück und hätte um ein Haar das Tablett mit den Tellern und Tassen vom Tisch gerissen. „Tot? Du meinst, wir sind alle sterblich?“
Karsten lächelte amüsiert. „Natürlich müssen wir alle einmal sterben, das ist ja die verdammte Krux… Hast du das nicht gewusst? Na, höre mal!“ Er schüttelte ungläubig den Kopf.
Ich war voll Hektik aufgesprungen. Eine ungeheure Angst, ja, Panik, hatte von mir Besitz ergriffen. Das Leben war wirklich endlich? Es war tatsächlich begrenzt??
Ich blickte ihn von der Seite an, so, als könne ich ihm noch etwas  Wichtiges - vor allem was Tröstliches - entlocken. „Aber das betrifft ja nur Jesse und hat mit uns hier nichts weiter zu tun, oder? Wir sind davon nicht betroffen, stimmt`s, mein Guter, mein Lieber, mein Freund?“ (Ich war jetzt angewiesen auf ihn, deshalb…)
  Er blieb ganz ruhig, was alles noch unheimlicher machte. „Nicht mittelbar, aber irgendwann schon! Früher oder später muss jeder von uns einmal sterben, so traurig das auch ist!“
Ich starrte ihn an. „Alle? Wirklich alle? Wird keiner ausgelassen? Niemand verschont?“
Er schüttelte gnadenlos den Kopf. Wie ein Scharfrichter kam er mir jetzt vor. „Nein, niemand! Leider! Irgendwann sind wir alle mal dran!“
Ich setzte mich wieder und ließ mein Leben, das mir bislang so unwichtig und langweilig erschienen war, an mir vorüberziehen. Ich hatte ja einfach immer nur so vor mich hingelebt, immer so weitergemacht, da ich der Ansicht war, dass ich noch unendlich viel Zeit  hätte. Aber wenn es tatsächlich so war, wie Karsten sagte - was natürlich erst einer genauen Überprüfung bedurfte, da es ja eigentlich eine Ungeheuerlichkeit darstellte - dann hatte ich viel zu viel Zeit vertrödelt, war dem Tod, ohne es selbst zu ahnen, immer  Stückchen für Stückchen nähergerückt, ohne die mir verbliebene Frist intelligent und kreativ zu nutzen.
Ich nahm einen großen Schluck aus der Mineralflasche. „Es ist ungeheuerlich! Wir leben, um zu sterben! Das ist doch vollkommen irrational, ja, eigentlich sogar bescheuert! Du musst dich irren!!“
Karsten hob gleichgültig die Schultern. „Erzähl das mal einer Eintagsfliege! Da gibt’s eine, die gerade mal vierzig Minuten lebt. Du, ich wette, die genießt jede einzelne Sekunde ihres Lebens! Von der können wir glatt was lernen! Warte mal kurz, hier kommt `ne Nachricht für mich! Ach, na, das ist vielleicht `n Ding! Jesse ist gar nicht tot! Da hatte wohl derjenige, der das verbreitet hat, einen zuviel über den Durst getrunken oder was falsch verstanden, wenn das überhaupt möglich ist!“
Ich erhob mich und grinste ihn breit an. „Ich fürchte, du musst jetzt gehen, Karsten! Zu viele „Fake News“ für den heutigen Vormittag!“
Er zog sich widerstrebend die Jacke an, wollte mir die Hand reichen, ich reagierte aber nicht darauf. „Aber das andere stimmt, das mit der Sterblichkeit, meine ich…!“ „Ja, ja, ist schon gut! Du kennst ja den Spruch: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht!“
Karsten hob bedauernd die Schultern und trollte sich. Er war nicht nachtragend, war es übrigens nie, eine seiner guten Eigenschaften.
  Dann brach er plötzlich aus mir heraus. Ein Lachanfall, wie schon seit Jahren nicht mehr. Langsam, ganz langsam, beruhigte ich mich wieder.
Aufatmend setzte ich mich in meinen Schaukelstuhl und legte die Beine hoch. „Ich und sterblich! Da lachen ja die Hühner!“
Dann bereitete ich mir was Leckeres zum Essen zu.
Das Leben erschien mir plötzlich so wunderbar wie noch nie zuvor.
Und endlos sowieso!!

Uschi Prawitz - 07:41:03 | Kommentar hinzufügen

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