Texte grenzenlos


 

2022-02-24

Spurensuche

von Zahraa Idan

Du hast diese Welt verlassen und bist am 01.11.2021 am Ziel angekommen. Gerne hättest du noch gelebt und deine unerschöpfliche Lebensfreude mit uns geteilt. Als der Kampf vorüber war, musst du etwas Wunderbares gesehen haben. Dieses erlöste Lächeln, das sich plötzlich auf dein Gesicht legte, ist wie ein tröstliches Vermächtnis an uns: „Seid nicht traurig. Ich bin angekommen und es ist so schön. Ich darf jetzt sehen, was ich geglaubt habe. Ich bin nur vorausgegangen. Wir sehen uns wieder.“
Nun habe ich an deiner Stelle die Aufgabe übernommen, Flyer für eine Veranstaltung auszuteilen, die dir wichtig war. Freunde sagten, das könnte ich nicht auch noch machen. Ich hätte doch sowieso kaum Freizeit. Für mich ist es, als würde ich einen Spaziergang mit dir machen und die Wege laufen, die du gelaufen bist. Mir ist, als würdest du mit der Abendsonne ein wunderbares Farbenspiel veranstalten und die herbstlichen Farben dieser Welt hier unten noch schöner leuchten lassen. Ich muss lächeln und freue mich, dass du da bist.
Ich darf nur da einen Flyer in den Briefkasten werfen, wo kein Aufkleber angebracht ist, der den Einwurf von Werbung verbietet. Bei manchen Häusern muss ich irgendwo klingeln, damit ich ins Haus komme. Manche sind verärgert, dass ich ausgerechnet bei ihnen klingele. Andere sind freundlich. So viele Briefkästen. Auf manchen sind die Namen ganz deutlich geschrieben. Bei anderen sind sie kaum lesbar. Unwillkürlich muss ich an das Wort denken, das Gott dir einmal zugesprochen hat: „Freuet euch aber, dass eure Namen im Himmel geschrieben stehen.“ Für einen Moment passe ich nicht auf und werfe den Flyer doch in einen „verbotenen“ Briefkasten. Ausgerechnet jetzt kommt der Adressat und holt seine Post heraus. Als er meinen Flyer entdeckt, wirft er ihn zu Boden und bestraft mich mit einem grimmigen Blick. Was mag ihn wohl so griesgrämig gemacht haben? Sein Äußeres lässt erkennen, dass er nicht viel Mühe darauf verwendet. Vielleicht fehlt ihm die Kraft dazu oder er sieht keinen Sinn darin. Ich möchte ihm zurufen, diese Veranstaltung könnte ihr Leben verändern, aber das traue ich mich nicht. So bete ich im Stillen für ihn, weil ich weiß, das hättest du gemacht.
Welche Schicksale mögen sich wohl hinter all den Namen verbergen? Ist gerade jemand in Quarantäne und wartet bange auf ein Testergebnis? Welcher unsichtbare Mitbewohner sitzt mit am Tisch? Die Angst und Sorge vor der Zukunft oder die Freude, weil man frisch verliebt ist, eine Arbeit hat, die einen erfüllt und Menschen hat, mit denen man seine Freude teilen kann?
Wieder gehen meine Gedanken zu dir. Obwohl du selbst einen hohen Lebensstandard genossen hast, warst du dir nicht zu schade auch dorthin zu gehen, wo die Hauseingänge und Briefkästen wenig einladend aussehen, wo man sich die Hände schmutzig macht, wenn man etwas einwirft. Für dich war jeder Mensch von Gott geliebt und du wolltest das, was dir in allen Lebenslagen Kraft und Zuversicht gegeben hat mit anderen teilen.
Auf dem Nachhauseweg erfüllt mich ein Gefühl von Dankbarkeit für die vielen schönen Erlebnisse, die ich mit dir haben durfte. Färbst du zum Abschied unseres Spaziergangs den Horizont in blau und rosa, weil du weißt, ich liebe solche Stimmungsbilder? Mir scheint es so.

Uschi Prawitz - 15:27:32 @ Allgemein | Kommentar hinzufügen

Kommentar hinzufügen

Die Felder Name und Kommentar sind Pflichtfelder.

Um automatisierten Spam zu reduzieren, ist diese Funktion mit einem Captcha geschützt.

Dazu müssen Inhalte des Drittanbieters Google geladen und Cookies gespeichert werden.


Karte
Infos