Texte grenzenlos
2022-02-24
von Klaus Köstner
Bedächtig setzte der alte Mann mit dem weißen Haar einen Schritt vor den anderen. Die
Luft wurde dünner, und das Atmen fiel ihm zusehends schwer. Die Spitze des Berges lag
noch im Dunst des herein brechenden Abends verborgen. Nur zu erahnen war der letzte,
entscheidende Grat, und die Entfernung zum Gipfelkreuz war kaum abzuschätzen.
Warum er gerade diesen Berg bestieg, wusste er nicht zu sagen. Er baute sich auf seinem
Weg majestätisch vor ihm auf, und wurde so zu seiner Bestimmung. Schwer lastete der
Rucksack auf seinen Schultern. Er enthielt so vieles, was sich im Lauf eines langen Lebens
angesammelt hatte. Manches war sicher nicht mehr zu verwenden, unnötiger Ballast, aber
man konnte nie wissen …
Bilder seines nun bald erfüllten Lebens zogen am inneren Auge des Mannes vorüber, das
deutliche Spuren in sein Gesicht gegraben hatten, Szenen unglaublicher Harmonie, aber
auch schmerzliche Erfahrungen. Er war sich nicht sicher, was letztlich überwog und wagte
keine keine Bilanz zu ziehen.
Im Alltag war er nicht allein, sondern beständig von Menschen umgeben, die
unterschiedliche Beziehungen zu ihm pflegten. Anerkennung hatte er überwiegend nur durch
seine Leistungen erhalten. Doch fühlte er sich zusehends missverstanden und vereinsamt.
Seine Lebenslinie näherte sich einer Geraden mit nur wenigen Ausschlägen in beide
Richtungen. Längst hatte er die Hoffnung auf eine entscheidende Wendung aufgegeben. Ja,
er hatte nicht einmal eine klare Vorstellung von dem, was er vermisste und manchmal in
stillen Nächten erträumte. Vielleicht hatte er auch kein Anrecht auf eine positive
Zuwendung, da er selbst sich zu oft verweigert, Andere damit zurück gestoßen und verletzt
hatte.
Endlich erreichte er die Quelle, die er von Beschreibungen her kannte. Kaltes, klares Wasser
sprudelte aus dem Felsgestein und sammelte sich in einer kleinen Kuhle voller
ausgewaschener Kiesel, bevor es in kleinen Sprüngen den steilen Abhang hinab stürzte.
Er hielt inne, atmete in tiefen Zügen die kühle, frische Luft und stellte seinen Rucksack auf
den Boden. Als er sich bücken wollte, um mit den – zu einer kleinen Schale geformten –
Händen von dem Wasser zu schöpfen, sah er diese Frau, der er wohl noch nie in seinem
Leben begegnet war. Sie war vielleicht um eine Generation jünger als er. Spontan bot sie
ihm ihre Trinkflasche, die sie eben gefüllt hatte, sprach jedoch kein Wort. Bereitwillig nahm
er die unerwartete Gabe an und leerte sie begierig in großen Zügen.
Als er das Gefäß mit einem herzlich empfundenen Dank zurück gab, sah er in unglaublich
tiefe, strahlende Augen und bemerkte ein Lächeln auf den wundervollen, ebenmäßigen
Gesichtszügen, das tief bis ins Innerste seiner Seele drang. Der leichte Wind spielte mit den
kurzen, sanft gewellten Locken der Frau, und die milde Sonne zeichnete spielerisch Reflexe
auf ihr Antlitz. Ihm schien, er hätte noch nie etwas so unglaublich Reizvolles gesehen.
Der alte Mann setzte sich zu einer kurzen Rast auf den Stein neben seinem Rucksack und
schloss die Augen, um seine wundervollen Eindrücke tief in sich aufzunehmen, damit er
sich immer daran erinnern könnte, wenn ihn seine Lasten allzu sehr bedrückten. Er schien
sonderbar erleichtert, ja einen Augenblick lang fühlte er sich unsagbar glücklich. Eine ihm
unbekannte Frau, die ihm nichts schuldete, hatte ihm völlig unerwartet das schönste
Geschenk seines Lebens bereitet, und er war nicht sicher, ob sie sich dessen überhaupt
bewusst war.
Was mag sie zu dieser unverhofften Geste bewogen haben? Sah sie in seinem Gesicht die
Hoffnungslosigkeit, die ihn bedrückte, oder fühlte sie sich aus einem unerfindlichen Grund
ihm nahe, wesensverwandt und bekundete ihrem Gegenüber ihre menschliche Wärme und
Anteilnahme? Gab es vielleicht auch in ihrem Leben unerfüllte Wünsche, und sie erhoffte
sich auf ihre Zuwendung eine Bestätigung durch seine positive Resonanz?
Als er erwachte – wie aus einem unwirklichen Traum - fühlte er sich verwandelt. Durch das
Lächeln der jungen Frau hatte er einen Augenblick des Glücks empfunden, das er nie
gekannt hatte und von dem er nicht einmal wusste, dass es das überhaupt gab.
Er war allein an der Quelle und erhob sich. Zögerlich nahm er seine Last, die ihm nun
deutlich leichter dünkte, wieder auf seine Schultern und stieg auf einem schmalen Pfad
weiter seinem Ziel entgegen. In seinem Innern trug er das Bild einer schier überirdischen
Schönheit, das ihn immer zutiefst erfüllen und nie mehr verblassen würde…
Uschi Prawitz - 15:18:44 @ Allgemein | Kommentar hinzufügen
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